Morgenseiten vom 6.10.2

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Das Schlimmste ist zu Ende gedacht
Du wirst nicht in den Winter geboren
Schubert stand auf und sang die Winterreise

„Das Schlimmste ist zu Ende gedacht“, sagte er noch zu sich selbst, aber es kam noch schlimmer. Der Kalender hatte es schon angekündigt, aber daran glaubte wohl noch keiner, so strahlend, sommerlich und nicht zuletzt badefreudig präsentierten sich die Septembertage, dass er es genoss, seine Schritte noch ein paarmal zur nahen Alten Donau zu lenken, sich seiner Kleider zu entledigen, ins Wasser zu springen und noch ein paar Runden schwimmend den späten Sommer zu genießen.
Und dann das! Kaum hatte sich der Wonne-September verabschiedet, stürmte im wahrsten Sinne des Wortes ein ungestümer Oktober auf ihn ein. Und der brachte auch seine Rabauken mit: Regenschauer, Windböen, Temperatursturz, dunkel wurde es auch schon früher, das war nicht eine bloße Vorahnung, was da auf uns zukommen sollte: „Du wirst nicht in den Winter geboren,“ beschwor er sich, die Hoffnung nicht aufgebend, jetzt, bevor es losgehen sollte mit den langen tristen Nächten, doch noch den einen oder anderen Sonnenstrahl mit in die Finsternis nehmen zu können und von ihnen zu zehren, wenn dicke Eiszapfen vor dem Fenster den Blick nach draußen, die Suche nach ein bisschen Wärme trüben und hohe Schneewehen die letzte Hoffnung schwinden lassen würden.
Doch es war vergeblich: Vorne, vor dem Lindenbaum erstarrten die gefrorenen Tränen, und der Frühlingsbaum, an den er sich in seinem Rückblick erinnern wollte, entpuppte sich als trügerische Täuschung. So musste sich das Alter anfühlen, dachte er bei sich und so war es auch: sein greiser Kopf empfand nur noch Einsamkeit, keine, auch keine letzte Hoffnung auf einen wenn auch stürmischen Morgen konnte ihm ihm Wegweiser sein, eine Wetterfahne gleichsam, um sich seinem Frühlingstraum hinzugeben.
Und plötzlich erkannte er ihn: Aus der kalten, dunklen Ecke des Zimmers stand Schubert auf und sang die Winterreise.

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