Zwischen Lambach und Vorchdorf verbindet die nach einer ihrer Destinationen benannte Eisenbahn, die so genannte Vorchdorfbahn, die Welt mit einem Stück Salzkammergut. Und damit auch längst vergessen geglaubte Kindheits- und Bubenträume.
Wie es in geschlossenen Anstalten in den letzten Jahren mehr und mehr gebräuchlich wird, gelangen auch wir Insassen der Anstalt in den raren Genuss eines der raren Freigänge. Mir gelang es, im Rahmen eines Schnapsturniers meinen glücklosen Gegner einige Bettlaken abzugewinnen, welche die Basis für wenige Stunden Freiheit bilden sollten. Ich knotete sie noch in der Nacht von schwarzem Freitag zu Sonne verheißendem Samstag zusammen und seilte mich bei Morgengrauen ab, machte die Mücke, gab Fersengeld und stahl mich mir nichts, dir nichts, einfach davon, von dannen.
Noch zeigte mir der später sonnige Samstag seine kalte Schulter, aber ich ließ mich nicht beirren. Meinen Weg hatte ich schon gestern vorgezeichnet, und von dem ließ ich mich nicht abbringen: schon vor einigen Tagen fielen mir die antik anmutenden Garnituren von Triebwagen der Regionalbahn auf, so alt, dass ich trotz ihres Kleinwuchses im Industriedesign der 60er Jahre ehrfurchtsvoll zu ihnen aufblickte und noch einmal wünschte, ihr Lokführer werden zu dürfen.
Wenn ich einmal groß sein würde, selbstverständlich.
Heute war allerdings kein Papa da, der mich liebevoll auf seine Schultern hob, um mir einen besseren Überblick zu verschaffen, heute war der Kleine ganz auf sich alleine gestellt. So klopfte sein Herz noch einmal vor Aufregung bis zum Hals, als er das alte Vehikel, Lokomotive und Waggon in einem, erklomm. Er vermeinte durch die den Fahrgastraum erwärmenden Sonnenstrahlen den typischen Ledergeruch zu schnuppern, das Quietschen der Federn in der Sitzpolsterung zu vernehmen, das Vibrato des kleinen Fernwehs auf seinem Weg nach Lambach.
Aufgeregt schoss er Bild um Bild, bat den Zugführer, vorne in der Kanzel mitfahren zu dürfen und machte sich als Mittfünfziger unter der Schar Schülerinnen und Schüler, die ihr tägliches Transportmittel von deren Anstalten nach Hause täglich eher gelangweilt konsumierten und in dem Verrückten aus Wien heute eine sie belustigende Abwechslung sahen.
Das Ziel der Reise stand zwar fest, es sollte ein Ausflug nach Lambach und wieder zurück in die Anstalt werden, aber im Grunde war die Destination dieses Tages egal, den es war der Weg, der für mich bereits das Ziel darstellte. Und da war ich schon längst angelangt: In meinem Traum lenkte ich das Geschick von Bahn und Passagieren, war Herr und Gebieter über die Reise auf den Schienen durchs Salzkammergut, schaltete und waltete umsichtig über unsere Reisegeschwindigkeit, erkannte konzentriert den Wildwechsel, ließ den Triebwagen weit vernehmbar pfeifen, wenn wir uns den Bahnübergängen näherten während die Automobilisten schon ungeduldig darauf warteten, endlich die Gleise überqueren zu dürfen. Mit unbeschreiblichen 60 km/h ging die Jagd dahin.
In Stadl Paura hatte sich ein Teenager zu den beiden Mädels im Waggon hinzugesellt und versuchte linkisch, sich ihnen gegenüber in ein möglichst interessantes Licht zu rücken. Was von ihnen kichernd quittiert wurde. Die sprichwörtliche alte Bäuerin mit ihrem zu transportierenden Hühnerstall gibt es in unseren Tagen natürlich nicht mehr, aber dafür die touristische Wandergesellschaft mit beinhahe hannoveranischem Zungenschlag und das Pärchen, das zart umschlungen auf die kommende Station wartete: Bad Wimsbach Neydharting, „Da wohnen wir,“ gab er mir zu verstehen und deutete an, dass es auch für mich Zeit wäre auszusteigen, wollte ich rechtzeitig zum Abendessen in der Anstalt einlangen.
Ja, die Anstalt erwartete mich wieder. Ob die Bettlaken bereits für einen Mitinsassen geknüpft waren? Oder noch einmal für mich? Vorchdorf wäre die nächste reizvolle Destination … und dann bis zur Unendlichkeit und noch viel weiter: nach Gmunden, direkt zum Bahnhof am Traunsee …
Veröffentlicht am 14.2.2015