Der Fälscher

Für Elisabeth.

Der Traum, in die Zukunft blicken zu können, ist möglicherweise so alt, wie wir kundig in der Vergangenheit forschen; erkennen, dass unsere Vorfahren anscheinend das erfunden haben, woraus wir ein knappes Jahrhundert danach, 300 Jahre danach, 2000 Jahre danach nichts gelernt haben. Möglicherweise schickten sich damals erste Terrorzellen in Palästina an, den ultimativen christlichen Staat zu gründen, während die Israeliten in der Zwischenzeit das Kolosseum errichteten. Und dann im Zeichen der Nächstenliebe politische Widersacher um die Ecke brachten, Völker missionierten und sie mit den Argumenten Jesu auf den Rechten Weg geleiteten. Daher rührt möglicherweise auch der Begriff „Totschlagargument“ …

Doch dann begann eine Epoche, humanistisch, zukunftsweisend, weil man sich nicht zuletzt auch der Vergangenheit besann, gefährlich für ihre Denker, welche den Nächste liebende gefährlich waren: diese mochten aufbrechen, den nur scheinbar von Gott gegebenen Naturgesetzen paroli zu bieten, sie durch vernunftgetragenes Denken bereichern. „Wehret den Anfängen“, predigten bunt Gewandete und meinten damit doch nur: „Hütet das ewig Gestrige.“ So wurde, was man später Physik nannte, als Ketzertum abge-, und ihre Pioniere entsprechend misshandelt.

Einer von ihnen wurde verschont. Nennen wir ihn Lernardo. Lernardo war unersättlich in seinem Wissensdrang. Gewandt reiste er zwischen der ihm und den Menschen bekannten Welt und den Visionen, wie sie nur ihm zuteil wurden, er flog in ihnen gleichsam in neue Wahrnehmungen und Welten, ja es schien, ihm war es gegeben, die Zukunft zu erkennen, ihre großen Zusammenhänge und faszinierenden Details, die er, Mosaikstein für Mosaikstein, zu neuem Ganzen zusammenfügen konnte.

So entstand auch SEIN Bild: „Pragmato, mein Freund“, sprach er eines Tages zu seinem Wegbegleiter – es war sein Freund, der ihn schon das eine oder andere Mal dem Zugriff der präinquisitorischen Gestrigen entzogen hatte, ein redegewandter Advokat Lernardos, der auch wusste, was zu tun war, wenn dieser den Bogen des Erträglichen überspannt zu haben schien. „Pragmato, sieh her! Dieses Bild habe ich aufgrund meiner Berechnungen, Beobachtungen und Analysen erstellt. Es zeigt uns heute schon – wir schreiben noch nicht einmal 1500 a.D., und schon habe ich erkennen dürfen – wie einst, möglicherweise im Jahre 2000 a.D., wenn es dann uns Menschenkinder noch gibt, die Anmut ihrer Tage uns angesichtig wird: Sieh, ihre Augen vereinen selbstbewusst Sinnlichkeit und Wissen um die Geheimnisse von Körper und Geist, wie es uns noch viele, viele Jahre verborgen bleiben wird. Ihr nur scheinbar verhaltenes Lächeln unterstreicht die Kraft der mater aeterna, die uns unser Leben spendet, wie sie doch viel mehr um die Bedürftigkeit ihrer altri egi, dem Prototyp ihrer selbst, weiß. Und sieh hier, Pragmato, sieh die Nase! Eingebettet in ihr – unser – Universum an weiblicher Strahlkraft, vor dem Hintergrund saftiger Weinberge, die Wahrheit spenden, gleicht sie doch jener der ägyptischen Königin, die, richte deinen Blick getrost südwärts, ein weiteres Mal auf die Frucht des Lebens, unseres Daseins darstellt.“

Lernardo konnte sich kaum im Zaum halten, so sehr erfüllte ihn seine Erkenntnis und vor allem auch wie es ihm gelungen war, die Kraft seines Genies in ein nur vermeintlich kleines Gemälde zu verpacken.
Pragmato wusste zwar um das Genie seines Freundes, er wusste allerdings auch, wie er den Geist der Gottesvertreter zu packen hatte. Und er wusste auch schon, wie er es anpacken würde: „Lernardo, gestatte mir, dieses dein Meisterwerk für das Menschengeschlecht aufzubewahren, so lange, bis man den Wert deines Geistes imstande ist erkennen zu können, ihn zu schätzen, zu würdigen, damit der Welt Heil Bringendes zuteil wird.“

Pragmato machte sich ans Werk. Der Rest ist traurige Geschichte.

Veröffentlicht am 27.12.2014