Mark und das Notizbuch

Jetzt, nachdem er die gefährliche Lage, in der er sich gestern noch befunden hatte, gemeistert hatte, begann Mark sich zum ersten Mal, seit er hier in der großen Stadt angekommen war, für alles brennend zu interessieren. Es war rückblickend auch verständlich, dass er für seine Umwelt kaum ein Auge hatte, denn die Zeit vor dem großen Fest gestaltete sich traditionellerweise ziemlich hektisch, da war es kein Wunder, dass die Leute kaum aufeinander Rücksicht nahmen. Jede und jeder trachtete danach, mit dem eigenen, selbst auferlegten Stress zurechtzukommen anstatt die ruhigste Jahreszeit, wie diese Wochen allgemein genannt wurden, für ein geruhsames Miteinander zu nutzen und sich auf das große Ereignis zu freuen.

Anscheinend war der Schock von gestern heilsam, nicht nur für Mark, auch Wolfgang, das fühlte er, schien sich ihm plötzlich viel sensibler, ja liebevoller zu widmen. Wenn er ihn früher nicht gleich überhaupt vergessen hatte und er den ganzen Tag auf dem nackten Esstisch verbringen musste, wurde er, war im das Glück ein bisschen mehr hold, fast grob in das Fach für die Schreibgeräte seines Rucksacks verstaut, wo er im Dunkel meist ebenso allein unzählige Stunden zu fristen hatte. Aber heute war alles ganz anders: Heute klippte er Mark über den Einband seines Notizhefts, das Wolfgang sich vor kurzem zugelegt hatte und ließ beide behutsam in der Seitentasche seiner Jacke verschwinden. Dieser Ort war beiden um vieles sympathischer, denn bisweilen gesellte sich Wolfgangs rechte Hand in die Tasche und hielt beide gefühlvoll fest. Vor allem achtete er darauf, das sich sein Freund aus dem Hause Moleskine nicht verletzte, also knickte. Moleskine, das erzählte er mir auch, stammte aus einer berühmten Familie, denn in seine Vorfahren schrieben und notierten weltberühmte Persönlichkeiten ihre Gedanken, aus denen dann unvergessene literarische Werke entstanden. Moleskine erinnerte etwa an den Nobelpreisträger Ernest Hemingway, der hier die Grundsteine für seine preisgekrönte Literatur legte.

Du kannst dir vorstellen, dass ich vor Ehrfurcht beinahe erblasste, denn gemeinsam mit Nobelpreisträgern genannt zu werden und noch dazu mit der eignen Tinte keine schlechten Worte auf quasi heiliges Papier zu bringen, das, davon war ich überzeugt, adelte mich ja geradezu. Aber auch ich hatte einiges Aristokratische in dieser illustren Runde beizutragen, ließ sich mein Name, Mark, ja ebenfalls auf einen weltberühmten Mann zurückführen, der mit seiner Feder unvergessene Romane, Essays und auch Zeitungsartikel verfasste: Mark Twain. Du kannst dir vorstellen, dass unsere Brüste anschwollen, so stolz waren wir auf die Umgebung, in der wir uns befanden.
Bald riskierten wir daher einen Blick und prüften mit strengem Auge die Inhalte, die Wolfgang seit einiger Zeit in seinem Moleskine eintrug. Ganz verstanden wir die Einträge  ja nicht, aber wir trösteten uns damit, dass es sich wohl um sehr geheimnisvolle Notizen handeln müsse, Notizen, aus denen einmal ein preisgekrönter Roman entstehen würde und hoben ihn sozusagen zischen Mark Twain und Ernest Hemingway auf den erhöhten Platz in der Mitte des imaginären Sockels, dann würde von seinem Ruhm auch etwas für uns abfallen …

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