Was mir fehlt: ein Spiegel im Aufzug

Im Grunde fehlt mir nichts in meinem Leben. Als Zeitgenosse mit festen Gewohnheiten habe ich meinen Tagesrhythmus gefunden, der mich mit Zuversicht ausstattet und mir die notwenige Sicherheit gebend sicher durch mein Leben führt. Schon bevor man sich abends zu Bett begeben hatte, wurde die Brille an eine eigens dafür vorgesehen Brillennase aus Porzellan vor dem Spiegel und sein davor stehendes Tischchen befestigt, gleich neben dem Platz, wo Wohnungsschlüssel und Brieftasche ihr Zuhause zu finden pflegen. Das Telefon weicht nicht von meiner Seite und wenn, dann gibt es mir als einziger Mitbewohner mitunter schwer zu lösende Rätsel ihren Standort betreffend auf. Aber meistens übernachtet es an meiner Seite am Nachtkästchen, weckt mich nicht nur auf, sondern informiert mich als erstes über Aktuelles zum Tag. Durch sie erfahre ich die Uhrzeit, Wissenswertes über das Wetter, die Geburtstage von Freund und Feind, kurz, es lässt mich zuversichtlich in den neuen Tag blicken, der mit exakt 4,5 Minuten Zähneputzdienst, präzise abgezählten Tropfen aus der Dusche seinen Anfang nimmt um dann die Kaffeemaschine einzuschalten, die ich ebenfalls schon gestern auf ihren Einsatz vorbereitet hatte: Das Wasser im Spender wurde nachgefüllt, die blaue Kapsel namens vivalto lungo eingeworfen und, das Wichtigste, das Häferl an den dafür vorgesehenen Platz gestellt. Das hat seinen Sinn, denn vergisst man auf eine dieser Teilaufgaben, dann wird entweder a) der Kaffee schal, b) gar nicht, denn wo kein Wasser, da kein Kaffee oder c) auch gar nicht, denn wo kein Häferl, auch da kein Kaffee.
Auch die Garderobe untersteht strengen Spielregeln. Das beginnt mit umfangreichen Vorbereitungen am Abend davor, denn eine Überraschung, oder, schlimmer noch, Ratlosigkeit vor dem Kleiderschrank, die Zusammenstellung derselben betreffend, das geht gar nicht. So gesellen sich Hemd zu Hose und dazu passendem Gürtel, Socke zu Schuh, Pulli als aparter Kontrapunkt und Schal zu allem. Phantastisch, so lässt es sich leben.
Die Morgenpost zu erledigen, treuer Begleiter zum nun schon leicht erkaltenden Kaffee, regt mich an, sich auch der Lektüre der Morgenzeitungen zu widmen, und bald kann das Tagwerk beginnen. Die Schuhe werden geschnürt, Brieftasche und Schlüssel kundig in die dafür vorgesehen Taschen gesteckt. Auch die Brille wechselt sicher die Nasen und schließlich wird der Mantel anmutig übergeworfen.
Die Tür fällt ins Schloss, der Lift naht. Ich steige ein, wende mich seit nun mittlerweile schon mehreren Jahren, die ich hier wohne, nach links, um ihm angesichtig zu werden und ich sehe … nichts! Kein Spiegel empfängt mich zu dieser sensiblen Morgenstunde, kein vis à vis, das mich erst ernst, dann freche Fratzen ziehend, belustigt. Kein Abbild des Grauens, das noch an den vergangenen Abend erinnert, der so lustig begonnen hatte und später drohende böse Erinnerungen am nächsten Morgen im Nebel der Nacht verdeckte. Kein stilles Versprechen, dass man ab morgen ein neues Leben beginnen, dass ab morgen alles besser würde. Kein strafender Blick vom vis à vis und die Resignation, dass es solche Versprechungen schon allzu oft gegeben hat.
Ich meine daher: Der Spiegel im Aufzug ist ein reinigendes Hygienikum auf den Weg zu meinem Leben fern der Sünde, spätestens bis der Tag seine Luft wieder verdunkelt und allerlei Ballast von sich wirft, die der Morgen noch so tonnenschwer auf mich geladen hat.

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